Home
GOLDENER SOMMER AUF CAPRI
S.O.S. FLORENZ
BITTERE ZITRONEN IN AMALFI
RETTET VENEDIG
VERSCHOLLEN IM GARDASEE
Leseprobe
GARDASEE - Fotos
GARDASEE - Kochrezepte
MAX VON ASSISI
BOMBA TROPEANA
RÖMISCHES LABYRINTH
ENDSTATION ISCHIA
Buchbestellungen
Zeitungsartikel-Kritiken-TV
ital. Reise-Impressionen
In Memoriam
Privates-Kontakt-Impressum
Gästebuch


Kapitel 1:

Die ersten Sonnenstrahlen schoben sich langsam über die grünen Hügel am Ostufer des Lago di Garda und spiegelten sich auf der völlig ruhigen Wasseroberfläche. Je mehr die goldene Scheibe der Sonne den anbrechenden Tag erhellte, desto deutlicher war zu erkennen, dass die Einheimischen und Touristen ein Frühsommertag mit wunderbar klarer Sicht erwartete. Weit draußen auf dem See lagen zwei Fischerboote, auf denen die Fischer gerade damit beschäftigt waren, ihre Netze einzuholen und den Fang der letzten Nacht in die bereitstehenden, mit Eis oder Wasser gefüllten Kübel zu werfen. Im kleinen Hafen von Lazise unterbrach der Glockenschlag der aus dem zwölften Jahrhundert stammenden und dem Schutzpatron der Fischer geweihten Kirche San Nicolò die morgendliche Stille.  

In etwa zweihundert Metern Entfernung, am Lungolago Marconi, klingelte in einem Bungalow gegen sieben Uhr der Wecker und riss den Münchner Unternehmer Kurt Becker und seine Frau Nina aus dem Schlaf. Nina Becker wälzte sich zur Seite, gab ihrem Mann einen Kuss auf die Wange, stand auf und zog den dicken, dunkelblauen Vorhang zur Seite.
„Heute wird sicher ein schöner Tag“, freute sie sich, als sie auf den See, der direkt auf der anderen Straßenseite lag, hinausblickte.
Sie ging hinüber in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine ein und verschwand im Bad. Währenddessen war auch ihr Mann aufgestanden, hatte den Schrank geöffnet, seinen dunkelbraunen Aktenkoffer hervorgeholt und sich damit aufs Bett gesetzt. Er ließ die Schlösser aufschnappen, klappte den Deckel hoch und nahm einen Aktenordner und mehrere Klarsichthüllen heraus. Schnell hatte er festgestellt, dass er alles, was er für den am Vormittag bevorstehenden Termin brauchte, beisammen hatte.
„Das Bad ist frei“, rief Nina, als sie wieder in die Küche zurückging, um das Frühstück herzurichten.

Kurt Becker legte sämtliche Unterlagen in seinen Koffer zurück, stellte ihn in der Garderobe ab, ging duschen und setzte sich zehn Minuten später zu seiner Frau an den gedeckten Frühstückstisch. Obwohl er seit ein paar Tagen Urlaub hatte, wollte er am Vormittag in Verona einen Geschäftspartner treffen.
„Wann müssen wir los?“, fragte ihn seine Frau.
„Ich habe den Termin um halb zehn, wenn wir gegen halb neun losfahren, sollte das locker reichen, auch wenn in Verona sehr viel Verkehr sein sollte.“

Kurt Becker hatte Betriebswirtschaft studiert, bei einem Praktikum und nach dem Studium bei zwei verschiedenen Firmen erste Berufserfahrungen gesammelt, war dann in den väterlichen Betrieb eingestiegen und musste schon vier Jahre später die Leitung übernehmen, da sich sein Vater aufgrund gesundheitlicher Probleme aus dem Berufsleben zurückziehen musste. Seitdem war Kurt geschäftsführender Gesellschafter der BBA GmbH, der Becker Batterien und Akkumulatoren GmbH, mit Sitz in Unterhaching bei München. Mittlerweile war er achtundvierzig Jahre alt und schon seit sechzehn Jahren mit seiner vierundvierzigjährigen Frau Nina verheiratet. Kennen gelernt hatten sich die beiden bei einem Weinfest in Bardolino, deshalb verbrachten sie seitdem regelmäßig ihre Urlaube am Lago. Im Laufe der Jahre hatten sie auch schon ganz gut Italienisch gelernt, was den regen Kontakt zu den Einheimischen natürlich begünstigte. Lange hatten sie vergeblich nach einer Eigentumswohnung oder einem kleinen Häuschen Ausschau gehalten, bis sich acht Jahre zuvor die Gelegenheit ergeben hatte, in Lazise in zentraler Lage direkt am See einen Bungalow zu erwerben. Das kleine Städtchen Lazise mit nur siebentausend Einwohnern liegt am sogenannten Veroneser Südostufer des Gardasees zwischen Bardolino und Peschiera und ist bei Urlaubern besonders durch die im Süden des Ortes liegenden riesigen Campingplätze und Vergnügungsparks bekannt. Wahrzeichen der Stadt ist die sehr gut erhaltene Scaliger-Burg mit der ebenfalls von den Scaligern errichteten Stadtmauer. Durch drei große Stadttore erreicht man die historische Altstadt, die für den Autoverkehr gesperrt ist. 

Nach dem Frühstück räumte Nina Becker das Geschirr in die schmale Spülmaschine, unterdessen beantwortete ihr Mann einige Mails, die ihm sein Prokurist Heinrich Schaller, der ihn während seiner Abwesenheit in der Firma vertrat, am Vorabend geschickt hatte. Gegen halb neun verließen sie ihren Bungalow. Beckers schwarzer Audi A6 parkte auf dem Grundstück direkt hinter dem zweiflügligen Gartentor, wo eine etwa drei mal fünf Meter große Fläche gepflastert war. Während Becker seinen Aktenkoffer hinter den Fahrersitz stellte und einstieg, öffnete seine Frau das Gartentor und wartete, bis er rückwärts herausgefahren war, um es dann wieder zu schließen.
„Tuuuuuuuuut“, tönte ein Schiffshorn vom See her.
Das kleine Schiff, das von Peschiera über Lazise, Bardolino, Garda, Torri del Benaco und Brenzone nach Malcesine fährt, hatte den Hafen von Lazise soeben verlassen. Der Kapitän Lorenzo di Salvo kannte die Beckers sehr gut, weil sie schon oft bei ihm an Bord gewesen waren und er mit ihnen schon so manches Mal geplaudert hatte. Außerdem waren sie sich mehrfach bei Festen am See begegnet, weil er ebenfalls in Lazise wohnte. Nach seinem Gruß mit dem Schiffshorn winkte er von seinem Schiff herüber. Nina Becker winkte ihm freundlich zurück und stieg dann ins Auto ein.
„Lorenzo hat herübergegrüßt“, sagte sie zu ihrem Mann und deutete auf den See, weil sie nicht wusste, ob er im Auto das Signalhorn gehört oder ihr Winken gesehen hatte.
„Jetzt wo er weiß, dass wir wieder hier sind, wird er bestimmt jeden Tag darauf warten, dass wir einmal zu ihm an Bord kommen. Sollen wir am Samstag zum Markt nach Malcesine fahren, Nina?“
„Das ist eine gute Idee, der Markt in Malcesine ist für mich hier in der Umgebung doch immer wieder einer der schönsten.“ 

Über die Viale Roma erreichten sie die Via Gardesana Occidentale, die die Ortschaften auf der Ostseite des Gardasees miteinander verbindet. Aber schon nach einem kurzen Stück Richtung Süden mussten sie auf die Strada Proviciale 5 abbiegen, die bis zur Brenner-Autobahn hinüberführt, diese überquert und dann parallel zur Autobahn südwärts weiterverläuft. In der Nähe der Autobahnausfahrt Verona Nord zweigten sie in Richtung Verona Centro ab. In Verona überquerte Becker die Etsch auf der Ponte San Francesco und fuhr dann den Lungadige Galtarossa und den Lungadige Porta Vittoria entlang. An der Ponte delle Navi scherte er nach rechts aus und hielt am Straßenrand, um seine Frau aussteigen zu lassen. Während er seinen geschäftlichen Termin wahrnahm, wollte sie im Zentrum von Verona einen Einkaufsbummel machen und sich mit ihrem Mann zum Mittagessen wieder treffen.
„Viel Spaß beim Shoppen“, rief er ihr nach.
„Viel Erfolg bei deinem Termin“, entgegnete sie ihm, als sie ausstieg und die Beifahrertür hinter sich zuwarf, bevor er wieder losfuhr und sich in den fließenden Verkehr einordnete.
Nina Becker überquerte auf der Ponte delle Navi wieder die Etsch und marschierte über die Via Leoni und die Via Capelli in Richtung Piazza delle Erbe, wo sie auf dem grünen Markt frisches Obst und Gemüse einkaufen wollte. Da sie während ihrer Urlaube am Gardasee regelmäßig auch nach Verona kam, wusste sie, dass sich ganz in der Nähe der Piazza delle Erbe, etwas versteckt hinter einem langgezogenen Torbogen, der Palazzo Capuleti befindet. Dieser Palazzo war der Wohnsitz der Familie Capuleti und soll der Schauplatz eines Großteils der Geschichte von Romeo und Julia gewesen sein, weshalb er heute meist nur noch als Casa di Giulietta bezeichnet wird. An dem Torbogen, der den Palazzo mit der Via Capelli verbindet, blieb Nina stehen. Dort hielten sich an diesem Tag um diese frühe Uhrzeit nur relativ wenige Touristen auf, die eifrig den berühmten Balkon sowie die Bronzestatue der Julia im Hof fotografierten. Die Wände des Torbogens waren praktisch vollständig mit Herzen bemalt, mit kurzen Texten beschrieben oder mit kleinen Zetteln beklebt, auf diese Weise hatten hier unzählige Verliebte ihre Wünsche, Träume und Sehnsüchte hinterlassen. Auf der Piazza delle Erbe schlenderte Nina zuerst ein wenig zwischen den Marktständen und ärgerte sich, dass im Vergleich zum Vorjahr die Obst- und Gemüsehändler schon wieder weniger geworden waren. Mehr und mehr wurden diese von anderen Händler verdrängt, die allerlei Touristen-Krimskram verkauften. Damit war anscheinend mehr Geld zu verdienen als mit frischen Lebensmitteln. Umso mehr genoss sie den intensiven Duft der frischen Produkte an den ursprünglichen Ständen. Wie sie es vorgehabt hatte, kaufte sie dort Tomaten, einen Bund Basilico, Knoblauch, einen Kopfsalat sowie Äpfel und Birnen. Anschließend bummelte sie weiter durch die Via Giuseppe Mazzini mit den edlen Boutiquen einiger namhafter Luxusmarken. Immer wieder blieb sie vor den aufwändig gestalteten Schaufenstern stehen und kaufte sich schließlich in einem kleinen Laden zwei Blusen und einen Rock, sowie eine Tür weiter ein paar Sandalen. Mit ihren Einkäufen bepackt erreichte sie am Ende der Via Giuseppe Mazzini die Piazza Brà mit der alles überragenden Arena di Verona.

Buongiorno Signora“, begrüßte sie der Ober, als sie sich auf der Piazza im Freien in ein Café setzte und sich einen Cappuccino bestellte.
Nina Becker lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, genoss die warme Sonne und beobachtete die Menschen, die auf der Piazza unterwegs waren. Nach einer Weile holte sie den E-Book-Reader, den sie im April von ihrem Mann zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, aus ihrer Handtasche. Vor dem Urlaub hatte sie sich noch mehrere Romane auf den Reader geladen, so dass sie nun mit genügend Lesestoff für die freien Tage in Italien versorgt war. Schnell war sie so sehr in ihren Roman vertieft, dass sie um sich herum kaum noch etwas wahrnahm und völlig die Zeit vergaß, bis sie der Klingelton ihres Handys in die Realität zurückholte.
„Hallo Kurt, wo bist du?“
„Ich bin gerade losgefahren.“
„Ich sitze im Café Verdi.“
„Gut, ich schätze, dass ich bis in zehn Minuten da bin.“
Die zehn Minuten waren etwas zu optimistisch geschätzt, erst nach gut zwanzig Minuten sah Nina ihren Mann endlich über die Piazza auf sich zukommen.
„Kurz nachdem ich vorhin aufgelegt hatte, hat es direkt vor mir gekracht. Und anstatt dass die beiden Autofahrer gleich die Straße geräumt hätten, haben sie sich erst einmal ein paar Minuten lautstark beschimpft und sich gegenseitig die Schuld an dem Unfall zugeschoben. Sonst wäre ich schon viel eher da gewesen. Ich bin gleich in das nagelneue Parkhaus direkt beim Cimitero Monumentale gefahren, da war noch massig Platz.“
Er bestellte sich ein Acqua minerale und auch seine Frau ließ sich noch ein Wasser bringen.
„Wie war dein Termin?“
„Unterschiedlich. Positiv war, dass die Lieferverträge, so wie wir sie bereits ausgehandelt hatten, unterzeichnet wurden.“
„Aber?“
„Danach haben sie mich wieder ordentlich unter Druck gesetzt. Die wollen einfach nicht kapieren, dass ich meine Firma nicht verkaufen werde.“
„Das hast du denen doch jetzt schon oft genug gesagt, oder?“
„Natürlich. Seit sie vor einem Jahr damit angefangen haben, habe ich ihr Vorhaben schon mindestens fünfmal abgelehnt. Heute habe ich ihnen noch einmal deutlich gemacht, dass mir ihre finanziell durchaus reizvollen Angebote egal sind, weil ich einfach das Lebenswerk von meinem Vater nicht in andere Hände geben will. Zudem habe ich den Eindruck, dass sie, was die Übernahme angeht, nicht mit offenen Karten spielen.“
„Inwiefern?“
„Sie reden immer nur von dem alteingesessenen Betrieb, der durch den Schritt von der mittelständischen Firma in die Organisation eines größeren Konzerns seine Zukunft sichern müsste, dabei bin ich überzeugt davon, dass es ihnen in erster Linie um meine neuesten Patente für die Hochleistungs-Akkus und die Wallbox geht.“

Die Becker Batterien und Akkumulatoren GmbH hatte sich unter der Federführung von Kurt Becker in den vorangegangenen Jahren bei der Entwicklung neuer Produkte auf die Akkus für Elektroautos sowie die als Wallbox bezeichneten Schnellladestationen für diese Akkus konzentriert und hatte dabei bemerkenswerte Entwicklungserfolge erzielt. Die Akkus waren leichter und leistungsfähiger als diejenigen, die bisher schon am Markt eingeführt waren. Außerdem konnte durch die neueste Generation der Wallbox noch einmal eine erhebliche Reduzierung der Ladezeit für die Elektroautos erreicht werden.
„Glaubst du, dass du dafür mit deiner Firma allein genügend Abnehmer findest, damit sich die Vermarktung rechnet?“
„Ganz sicher. Du weißt doch, wie die Elektromobilität immer mehr in den Fokus rückt und in der Automobilindustrie wird sich langfristig der durchsetzen, der Elektroautos mit der größten Reichweite und damit der größtmöglichen Alltagstauglichkeit bieten kann. Das ist ein Milliardengeschäft und den Trumpf, den ich durch unsere Produkte nun in der Hand habe, will ich nicht leichtfertig hergeben.“
Kurt Becker wollte das Thema nicht länger breittreten, relativ schnell hatte er sein Wasser ausgetrunken und die Rechnung bezahlt. Bevor die beiden dann in ein Ristorante in der Nähe der Piazza Brà zum Mittagessen gingen, wollten sie am Ticket-Schalter der Arena ihre Eintrittskarten abholen. Übers Internet hatten sie sich bereits lange vor ihrem Urlaub jeweils zwei Eintrittskarten für die Prämieren von Aida und Nabucco für die Mitte Juni beginnenden Opernfestspiele reserviert. Die Aufführungen waren am Freitag- und Samstagabend, am Sonntag war dann nach knapp zwei Wochen in Lazise die Heimfahrt nach München geplant. 

Im Schatten von einigen großen, in schweren Terracotta-Töpfen eingepflanzten Palmen genossen sie ein vorzügliches Mittagessen. Als ersten Gang hatten sie Risi e bisi, ein Risotto mit Erbsen, gewählt und sich dann auf Empfehlung des Cameriere für ein Petto di tacchino all’uva bianca entschieden. Die mit Schinken und verschiedenen Kräutern gefüllte Truthahnbrust war so weich, dass sie kaum das Messer benutzen mussten und die Soße mit den weißen Trauben passte hervorragend dazu. Nach dem abschließenden Espresso brachen sie auf, schlenderten durch die Altstadtgassen bis hinüber zum Parkhaus auf der anderen Seite der Etsch, um nach Lazise zurückzufahren und den Rest des Tages am See zu verbringen.


Kapitel 2:

Max Hartinger saß an seinem Schreibtisch im Rosenheimer Polizeipräsidium und sortierte seine Akten auf zwei verschiedene Stapel. Auf den einen legte er alle Arbeiten, die während seiner bevorstehenden vierwöchigen Abwesenheit nicht unbedingt erledigt werden mussten, auf den zweiten, wesentlich höheren Stapel kamen alle Akten, die er seinem Kollegen Ludwig Maler, der ihm direkt gegenübersaß, zur weiteren Bearbeitung hinterlassen musste.
„Wann sollen wir die Übergabe machen, Wiggerl?“
„Gib mir noch eine halbe Stunde Zeit, dann bin ich hier fertig und wir können alles in Ruhe besprechen.“

Schon seit mehr als zehn Jahren teilten sich Max und Wiggerl ein Büro und arbeiteten bei den meisten Fällen auch direkt zusammen. Sie ergänzten sich gegenseitig sehr gut bei ihrer Arbeit und ihre gemeinsame Aufklärungsquote konnte sich durchaus sehen lassen. 
Ungefähr einen Monat vorher war Max Hartinger zu seinem Chef, dem Rosenheimer Polizeipräsidenten, gerufen worden. Max hatte erwartet, dass er ihn über den Stand der Ermittlungen bei einem Aufsehen erregenden Mordfall unterrichten sollte, aber der Polizeipräsident hatte eine Überraschung für ihn parat.
„Hartinger, was halten Sie davon, endlich einmal ganz offiziell in Italien ermitteln zu dürfen?“, hatte er ihn gefragt.
Sein Chef wusste natürlich, dass Max, der bereits seit vierundzwanzig Jahren mit einer Italienerin verheiratet war, perfekt italienisch sprach und bei seinen zahlreichen Italienreisen schon mehrere Kriminalfälle vor Ort gelöst hatte. Zudem war er mit der Arbeit der Carabinieri bestens vertraut, weil Francesco, der einzige Bruder seiner Frau Chiara, schon mehr als zwanzig Jahre bei den Carabinieri tätig war. Francesco war auf Ischia im Golf von Neapel stationiert, wo die Hartingers schon sehr oft ihren Urlaub verbracht hatten. Neugierig fragte Max seinen Chef, was es mit diesem Angebot auf sich hatte.
„Im Rahmen eines EU-weiten Programms zur Verbesserung der inneren Sicherheit ist ein befristeter internationaler Austausch von Polizisten vorgesehen. Das bayerische Innenministerium hat deshalb vorgeschlagen, dass ein Kriminaler unserer Dienststelle für vier Wochen in unsere Partnerstadt Lazise abkommandiert wird, während zur gleichen Zeit einer der Carabiniere vom Gardasee hier in Rosenheim eingesetzt wird.“
Max freute sich riesig über die unverhoffte Gelegenheit, vier Wochen am Gardasee zu arbeiten und nicht nur Chiara, sondern auch seine beiden Töchter Martina und Elena planten sofort, wie und wann sie Max in Lazise besuchen würden.

Die Partnerschaft zwischen Rosenheim und Lazise besteht bereits seit 1979. Erste Kontakte waren durch die Rosenheimer, die regelmäßig dort ihren Urlaub verbrachten, zustande gekommen. Insbesondere die relative Nähe zwischen beiden Städten gab den Ausschlag dafür, dass im August 1979 im Ferienausschuss des Stadtrates ein erster positiver Beschluss zur Partnerschaft gefasst wurde. Ende September war dann eine Rosenheimer Delegation nach Lazise aufgebrochen, um vor Ort einen Freundschaftsvertrag zu ratifizieren. Im Anschluss daran war schließlich am dreizehnten Oktober 1979 im Rosenheimer Stadtrat die Städtepartnerschaft einstimmig beschlossen und besiegelt worden.

Die Übergabe der offenen Fälle nahm doch mehr Zeit in Anspruch als von Max angenommen. Er hatte vorgehabt, am frühen Donnerstagnachmittag nach Hause zu fahren, um in Ruhe seinen Koffer für die am nächsten Morgen bevorstehende Abreise nach Italien packen zu können. Bis er aber Wiggerl alles Notwendige erklärt und übergeben hatte, war es schon nach vier.
„So, nun muss ich aber heim, sonst wird das Packen heute noch eine Hetzerei.“
„Ich wünsche dir viel Vergnügen am Gardasee.“
„Wiggerl, ich fahre doch nicht zum Spaß nach Lazise, sondern zum Arbeiten.“
„Sicher, aber am Abend und am Wochenende kannst du das dolce far niente genießen.“
„Verschrei es nicht. Wer weiß, an welchen zeitaufwändigen Fällen die Carabinieri in Lazise gerade arbeiten? Da kann es leicht vorkommen, dass der Feierabend oder auch das Wochenende zum Ermitteln hergenommen werden muss.“
„Und falls am Gardasee noch nichts Großartiges vorgefallen ist, dann wird sicher etwas passieren, sobald du dort angekommen bist. Wäre ja nicht das erste Mal“, lachte Wiggerl laut.
Max Hartinger hatte bei seinen Kollegen den Ruf, das Verbrechen geradezu magisch anzuziehen, weshalb es auch niemanden verwunderte, dass er bei seinen regelmäßigen Italienurlauben schon mehrfach mit spektakulären Mord- oder Entführungsfällen konfrontiert worden war. Er ging aber auf die spitze Bemerkung seines Kollegen gar nicht ein.
„Wiggerl, dir wünsche ich viel Spaß mit dem italienischen Kollegen, der dich ab Montag unterstützen wird.“
„Auf den bin ich wirklich gespannt. Hoffentlich spricht er tatsächlich so gut Deutsch, wie uns angekündigt worden ist.“
„Bestimmt. Lass uns Anfang nächster Woche mal telefonieren, dann kann ich dir auch schon die ersten Eindrücke aus Lazise schildern.“
„Wann geht es morgen bei dir los?“
„Der Zug fährt um kurz nach acht, dann bin ich gegen eins in Verona. Dort werde ich von einem der Carabinieri abgeholt. Es ist derselbe Zug, mit dem ich letztes Jahr im Mai in Richtung Assisi aufgebrochen bin.“
Im Vorjahr war Max Hartinger längere Zeit krankgeschrieben gewesen, nachdem er im Dienst einen mutmaßlichen Mörder erschossen hatte. Der Polizeipsychologe hatte ihm damals zu einer längeren Auszeit geraten, die er nach einem Tipp von seinem Schwiegervater in einem Kloster in der Nähe des berühmten Wallfahrtsortes in Umbrien verbringen wollte. Er hatte sich mit dem Zug auf den Weg gemacht und auf ein paar ruhige Wochen fernab des Polizeialltages eingestellt. Doch kaum angekommen, erschütterte ein Mord das beschauliche Klosterleben und ehe er sich versah, war er schon mitten in den Aufklärungsarbeiten der Carabinieri gesteckt.
„Was passiert morgen Nachmittag noch in Lazise?“
„Da lass ich mich überraschen. Offiziell startet meine Arbeit dort auch erst am Montag, bis dahin soll ich mich übers Wochenende erst einmal akklimatisieren. Es kann schon sein, dass die italienischen Kollegen gleich ein Freizeitprogramm für mich geplant haben.“
„Wann bekommst du Besuch von deinen drei Damen?“
„Wahrscheinlich in zwei Wochen. Chiara will dann auf alle Fälle kommen, Elena wird auch ziemlich sicher mitfahren, nur bei Martina steht es noch nicht genau fest. Sie wollen am frühen Freitagnachmittag starten, sobald Elena aus Fürstenfeldbruck zurück ist.“
Hartingers knapp einundzwanzigjährige Tochter Elena war dabei, beruflich in seine Fußstapfen zu treten und studierte in Fürstenfeldbruck im vierten Semester an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und Rechtspflege in Bayern, Fachbereich Polizei. Ihre gut zwei Jahre ältere Schwester Martina dagegen befand sich bei ihrem Betriebswirtschafts-Studium an der Rosenheimer Fachhochschule mittlerweile bereits im achten Semester. Während Elena am Wochenende und in den Semesterferien noch zuhause bei ihren Eltern wohnte, war Martina bereits kurz nach dem Abitur mit ihrem Freund Robert in eine gemeinsame Wohnung gezogen.
Max verabschiedete sich nun endgültig in seinen vierwöchigen Auslandseinsatz.
„Servus Wiggerl, halte hier die Stellung, dass mir keine Klagen kommen“, lachte er.
„Gute Reise, Max. Bring du nicht das ganze Revier der Carabinieri durcheinander“, schoss Wiggerl zurück.
„Das habe ich doch noch nie gemacht. Ich habe ihnen immer nur geholfen, ihre schwierigsten Fälle aufzuklären.“
„…die es ohne deine Anwesenheit gar nicht gegeben hätte.“
Max verkniff es sich, seinem Kollegen noch einmal Kontra zu geben, und machte sich endlich auf den Heimweg.  

Die Hartingers wohnten schon viele Jahre in einer Eigentumswohnung am südlichen Stadtrand von Rosenheim. Am Wochenende vor Hartingers Abreise waren sie nur knapp der Hochwasserkatastrophe entkommen, die nach tagelangen wolkenbruchartigen Regenfällen in mehreren Stadtteilen Rosenheims und im benachbarten Kolbermoor verheerende Schäden angerichtet hatte. Etliche Sperrmüllhaufen am Straßenrand zeigten, bei welchen Häusern die Keller vollgelaufen und teilweise sogar die Erdgeschosse überflutet gewesen waren. Zuhause angekommen konnte sich Max vorerst ungestört an seine Reisevorbereitungen machen. Seine Frau, die in Rom Germanistik studiert und in Italien als Dolmetscherin, Reiseleiterin und Sprachlehrerin gearbeitet hatte, unterrichtete nachmittags und an zwei Abenden mehrere Italienischkurse an der Volkshochschule in Rosenheim. Als Chiara eineinhalb Stunden nach ihm zuhause eintraf, war sein Koffer fast fertig gepackt. Max stand am Wohnzimmerschrank und zog aus einer Schublade gerade seinen Reisepass und sein Zugticket heraus.
„Hallo mein Schatz, wie war dein Kurs heute?“
„Im Prinzip wie immer, allerdings war die Gruppe heute etwas dezimiert. Zwei jugendliche Schüler sind bei der Feuerwehr und immer noch im Hochwassereinsatz, außerdem haben drei Damen gefehlt, die zuhause mit dem Aufräumen ihrer am Wochenende überfluteten Keller beschäftigt sind. Das ist im Moment natürlich wichtiger, als Italienisch zu lernen.“
„Das ist leicht nachvollziehbar. Beim Heimfahren habe ich gesehen, dass die Sperrmüllhaufen immer noch weiter wachsen.“
„Ja, wir haben wirklich Glück gehabt, dass wir nur für einen Tag vorsorglich unser Auto aus der Tiefgarage fahren mussten und nur einige Stunden ohne Strom waren.“
„Richtig. Ich glaube, noch ein halber Tag länger dieser Starkregen, dann hätte es unseren Keller auch erwischt.“
In ihrer Wohnung im ersten Stock wären die Hartingers zwar relativ sicher gewesen, aber in der Kürze der Zeit hätten sie kaum eine Chance gehabt, all ihre Habseligkeiten aus dem Keller in die Wohnung hinaufzutragen, falls das Hochwasser tatsächlich auch noch ihr Haus erreicht hätte.
„In den nächsten vier Wochen muss ich hoffentlich nicht mehr an Regen denken.“
„Du bist wirklich zu beneiden, Max. Wenn ich könnte, würde ich sofort mit dir mitfahren. Außerdem mag ich gar nicht daran denken, dass ich nun einen ganzen Monat allein daheim sein werde.“
Max sah, dass sie vergeblich versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. Er machte einen Schritt auf sie zu und nahm sie in den Arm. Nun gab es für ihre Tränen erst recht kein Halten mehr.
„Wir sehen uns doch schon in zwei Wochen wieder, wenn du mit Elena nach Lazise kommst.“
„Trotzdem“, schniefte sie. „Nacht für Nacht alleine einschlafen zu müssen, damit kann ich mich einfach gar nicht anfreunden. Vorletztes Jahr, als ich in Tropea war oder letztes Jahr während deines Assisi-Aufenthaltes habe ich mich schrecklich einsam gefühlt und jedes Mal ungeduldig die Tage gezählt, bis ich dich endlich wiedersehen würde.“ 

Mittlerweile war es sechsundzwanzig Jahre her, dass sich Chiara und Max auf dem Oktoberfest in München kennen gelernt hatten. Nach ihrer Hochzeit nur zwei Jahre später waren sie kaum einmal länger als eine Woche am Stück getrennt gewesen. Meistens war das nur der Fall, wenn Max für ein paar Tage auf Fortbildung war. Einmal allerdings war Chiara mit den Kindern die gesamten Osterferien alleine in Rom gewesen, weil Max ein Mord in Rosenheim in Atem hielt und einmal hatte er seine Familie vorerst alleine in den Urlaub schicken müssen, weil er wegen eines aktuellen Mordfalles zuhause unabkömmlich gewesen war. Chiara war damals mit Martina und Elena nach Ischia voraus gereist und Max war ihnen dann knapp eine Woche später hinterher geflogen. Erst ein kurzfristiger Einsatz von Chiara als Sprachlehrerin in Kalabrien sowie die Assisi-Reise von Max hatten in den beiden Vorjahren dafür gesorgt, dass sie gleich mehrere Wochen am Stück getrennt gewesen waren.

„Wenn dir die Fahrerei nicht zu viel wird, könntest du doch auch an den anderen Wochenenden zu mir nach Lazise kommen, das sind doch von hier gerade einmal dreihundertsechzig Kilometer“, wollte er sie etwas aufmuntern.
„Meinst du, das geht?“
„Bestimmt. Ich hoffe doch, dass ich die Wochenenden frei haben werde und mich nicht auch noch am Gardasee mit sehr zeitaufwändigen Fällen herumschlagen muss. In erster Linie soll mein Aufenthalt dort doch dem gegenseitigen Erfahrungsaustausch dienen.“
Er wollte die Umarmung lösen, aber Chiara klammerte sich nur noch fester an ihn.
„Dennoch werde ich jetzt erst einmal mindestens eine Woche allein sein.“
„Vielleicht kann ich dir den Abschied etwas versüßen“, hauchte er ihr ins Ohr, nahm sie bei der Hand und zog sie hinter sich ins Schlafzimmer.

Am nächsten Morgen hätte er seinen Wecker gar nicht gebraucht, schon eine halbe Stunde, bevor er aufstehen wollte, wälzte er sich unruhig im Bett hin und her. Nun spürte er doch eine gewisse Anspannung. Chiara hatte wie fast immer einen sehr ruhigen und tiefen Schlaf und war dann sofort hellwach, als sich der Radiowecker einschaltete. Zu diesem Zeitpunkt lief in der Küche bereits die Kaffeemaschine, während Max unter der Dusche stand. Nachdem anschließend auch Chiara im Bad gewesen war, frühstückten sie in Ruhe gemeinsam und machten sich dann mit dem Auto auf den kurzen Weg Richtung Bahnhof. Als sie wenig später am Bahnsteig standen und die Einfahrt des Zuges nach Verona bereits angekündigt wurde, umarmte Chiara ihren Max und drückte ihn fest. Sie kam nicht mehr dazu, etwas zu sagen, weil ihr wieder die Tränen übers Gesicht kullerten. Er wollte sie etwas aufmuntern und erinnerte sie daran, wie sie vor gut einem Jahr an gleicher Stelle gestanden waren.
„Denk daran mit welcher Ungewissheit du mich damals auf die Reise nach Assisi geschickt hast. Du wusstest nicht, wann und in welcher Verfassung ich zurückkommen würde, das ist doch heute völlig anders.“
Sie nickte stumm und lächelte ihn an.
„Ich freue mich darauf, endlich einmal ganz offiziell in Italien zu arbeiten, auch wenn ich dich natürlich nicht gerne alleine lasse. Aber die vier Wochen werden bestimmt sehr schnell vorbei sein und dann bekommst du deinen alten Max wieder zurück.“
„Hoffentlich“, sagte sie leise.
Ihre Antwort ging fast im Lärm des einfahrenden Zuges unter. Max gab Chiara einen langen, innigen Kuss, nahm seinen Koffer, stieg ein und ging im Zug bis zu dem Abteil mit seinem reservierten Platz. Chiara war parallel dazu außen am Zug entlang gegangen und beobachtete Max, wie er seinen Koffer auf der Gepäckablage verstaute und den Rucksack vor seinem Sitz auf den Boden stellte. Kaum hatte er sich zu Chiara umgedreht, setzte sich der Zug in Bewegung. Chiara warf ihrem Max eine Kusshand zu und wischte sich mit dem Handrücken einige Tränen aus dem Gesicht. Max erwiderte die Kusshand und winkte ihr, solange er sie noch sehen konnte.

Max hatte das Abteil für sich allein und packte sofort seinen mitgebrachten Lesestoff aus: die aktuelle Rosenheimer Tageszeitung, zwei Ausgaben einer Sportzeitung sowie die letzten drei Ausgaben eines Fußballmagazins. Er hatte einiges zum Nachlesen, denn in den zwei Wochen vor seiner Abreise hatte er abends jeweils sehr lange gearbeitet und deshalb keine Zeit gehabt, die Berichte über die Endphase der abgelaufenen Fußball-Saison zu lesen. Für ihn als Bayern-Fan waren die letzten Spiele aufregend und erfolgreich zugleich gewesen. Natürlich hatte er vor dem Fernseher mitgefiebert, als sein FC Bayern im Londoner Wembley-Stadion das Finale der Champions-League durch das Tor von Arjen Robben gewonnen hatte. Eine Woche später wäre die Freude über den Sieg im DFB-Pokalfinale in Berlin und dem damit verbundenen, historischen Triple-Gewinn beinahe in den Fluten des immer weiter ansteigenden Hochwassers untergegangen. Bis Verona hatte er alle Hintergrundberichte, Sieger-Interviews und Lobenshymnen über diese einmalige Bayern-Saison gelesen. Sein Zug rollte mit einigen Minuten Verspätung in die Stazione Porta Nuova ein. Während der Fahrt war Max, weil er durch die Fußball-Berichte abgelenkt war, relativ ruhig gewesen, aber nun war er doch etwas nervös und gespannt darauf, wer ihn abholen und was ihn in Lazise alles erwarten würde. Noch während der Zug rollte, war er von seinem Abteil in Richtung Tür gegangen und konnte so als einer der Ersten aussteigen. Auf dem Bahnsteig sah er sich um, konnte aber auf Anhieb nirgends einen Carabiniere entdecken. Weil ausgemacht war, dass er direkt am Gleis abgeholt werden würde, blieb er einfach stehen, wo er ausgestiegen war. Nach und nach leerte sich der Bahnsteig, die Ankommenden verschwanden über die Treppe in der Unterführung zur Bahnhofshalle, während die Abreisenden längst in den Zug eingestiegen waren. Schon schlossen sich die Türen und der Eurocity setzte sich für die Weiterfahrt nach Venedig in Bewegung. Max nutzte die Wartezeit, um kurz Chiara anzurufen, damit sie wusste, dass er gut angekommen war. Fast fünf Minuten stand Max alleine da, bis er auf der anderen Seite des Gleises einen uniformierten Carabiniere aus der Bahnhofshalle herauslaufen und die Treppe zur Unterführung heruntersprinten sah. Ziemlich atemlos kam er beim Bahnsteig von Max wieder aus dem Untergrund hervor.
Benvenuto a Verona, Signor ’artinger“, schnaufte er. “Ich bin leider nicht pünktlich in Lazise weggekommen.”
„Kein Problem“, antwortete ihm Max und streckte ihm die Hand entgegen.
Der Carabiniere stellte sich ihm als Vice Brigadiere Ignazio Castellano vor.
„Ich freue mich, dass Sie uns in den nächsten vier Wochen unterstützen werden, Signor ‘artinger.“
Max bot ihm gleich an, ihn beim Vornamen zu nennen, damit er sich das für Italiener so schwierige „H“ sparen konnte.
„Einfach nur Ignazio ist mir auch lieber, auf unserem Revier duzen wir uns sowieso alle.“
Ignazio hatte seinen Dienstwagen vor dem Bahnhof auf dem großen Piazzale XXV. Aprile geparkt. Max hievte sein Gepäck in den Kofferraum des dunkelblauen Fiat Bravo und stieg vorne zu Ignazio in den Wagen.
„Hier sieht es im Moment furchtbar aus, bis vor kurzem war mitten auf der Piazza eine runde Grünanlage, um die herum im Kreis die Autos geparkt waren. Nun soll der ganze Bereich vor dem Bahnhof neu gestaltet werden, bisher sieht man aber nichts als Dreck und Baufahrzeuge.“

Auf der Fahrt Richtung Lazise erzählten sie sich gegenseitig einiges über ihren beruflichen Werdegang. So erfuhr Max, dass Ignazio sechsunddreißig war, aus Rovereto stammte und dort seine Ausbildung absolviert hatte. Bis zu seiner Versetzung nach Lazise hatte er auch in seiner Heimatstadt gearbeitet, mittlerweile war er aber schon das achte Jahr am Gardasee eingesetzt. Natürlich kam auch ihr Privatleben zur Sprache. Ignazio war verheiratet, seine Frau Eleonora, die ebenfalls in Rovereto geboren war, arbeitete in Lazise als Lehrerin an der Scuola Elementare. Zusammen hatten sie drei Kinder.
„Anna ist dreizehn, Caterina zehn und Ignazio Junior wird demnächst acht.“
„Ach, das waren noch Zeiten, als meine beiden Mädchen noch so jung waren“, seufzte Max übertrieben laut und musste über sich selbst lachen.
„An den Kindern sieht man, wie schnell die Zeit vergeht“, pflichtete ihm Ignazio bei.
„Genau. Inzwischen studieren die beiden schon.“
In Lazise steuerte Ignazio direkt das Revier der Carabinieri an. Der flache zweistöckige gelbe Bau lag direkt am Beginn der Via Salvo D’Acquisto, einer Seitenstraße der Strada Provinciale 5.
„Ich will dir gleich meine Kollegen vorstellen, danach fahre ich dich zu deiner Wohnung, die ganz in der Nähe liegt.“
An diesem Freitagnachmittag waren außer Ignazio noch Maresciallo Emilio Brentani, der Leiter der Carabinieri-Einheit von Lazise, sowie der noch recht junge Arturo Mazzurega im Dienst. Beide begrüßten Max auch sehr herzlich und wünschten ihm, dass er sich übers bevorstehende Wochenende schon ein wenig eingewöhnen würde.
„Kennen Sie sich in Lazise bereits ein bisschen aus?“, fragte der Maresciallo.
„Nein, ich muss gestehen, dass ich noch nie hier war. Einmal habe ich mit meiner Frau eine Woche am See verbracht, allerdings am Westufer, in Toscolano Maderno. Sonst bin ich auf dem Weg in den Italien-Urlaub immer nur im Auto am See vorbeigefahren oder Richtung Süditalien drüber hinweggeflogen.“
„Dann sehen Sie sich heute erst einmal um und wenn Sie morgen noch nichts vorhaben, würde ich Sie gerne zum Mittagessen einladen“, schlug Brentani vor.
„Sehr gerne. Ich freue mich schon seit Tagen auf ein Essen im Freien, bei uns war daran in diesem Jahr noch überhaupt nicht zu denken.“
Brentani nickte.
„Das schlechte Wetter und vor allem am letzten Wochenende die Hochwasserkatastrophe in unserer Partnerstadt waren natürlich auch ein Thema in der hiesigen Presse. Waren Sie von den Überschwemmungen auch direkt betroffen?“
„Zum Glück nicht, aber viel hat nicht gefehlt.“
„Bei uns war die zweite Maihälfte auch ungewöhnlich kühl, aber die Aussichten für den Juni sind bis jetzt sehr gut. Nächstes Wochenende soll es sogar schon richtig heiß werden.“
„Ich hätte nichts dagegen, mir kann es eigentlich nie warm genug sein“, meinte Max, der sich auf der Fahrt von Verona schon darüber gefreut hatte, dass das Autothermometer bereits siebenundzwanzig Grad angezeigt hatte.

Nachdem sie vereinbart hatten, dass Brentani Max am Samstag um eins bei seiner Unterkunft abholen würde, brachte ihn Ignazio zu seiner Wohnung, die absichtlich so nah beim Revier lag, dass Max in den folgenden vier Wochen zu Fuß zum Dienst erscheinen konnte. Die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung lag im Vicolo Casara, entlang der Strada Provinciale nur zwei Querstraßen weiter Richtung Ortsmitte. Vor dort waren es gerade einmal einhundert Meter bis zu einem großen Kreisverkehr, bei dem die Strada Provinciale in die Via Gardesana mündet. Ignazio übergab Max die Wohnungsschlüssel sowie einen Stadtplan von Lazise.
„Wir sehen uns dann am Montag um acht auf dem Revier. Ich hätte dich gerne heute Abend zu uns zum Essen eingeladen, aber ausgerechnet heute ist der Geburtstag von meiner Schwiegermutter, deswegen werde ich am Spätnachmittag mit der ganzen Familie noch nach Rovereto fahren und bis Sonntag dort bleiben.“
„Kein Problem, Ignazio. Ich werde heute Abend bestimmt nicht verhungern.“
Ignazio nannte ihm noch ein paar empfehlenswerte Ristoranti in Lazise und verabschiedete sich von ihm. Max machte einen Rundgang durch die Wohnung und trat auf den kleinen Balkon hinaus, von dem aus man bis zum See blicken konnte. Danach packte er seinen Koffer aus und legte sich aufs Bett. Mit dem Stadtplan in der Hand überlegte er sich, auf welchem Weg er gleich eine erste Runde durch Lazise spazieren sollte, um sich einen Überblick von seinem neuen Einsatzort zu verschaffen. Dann legte er den Stadtplan beiseite, streckte sich auf dem Bett aus und schloss die Augen. So war er innerhalb weniger Minuten eingeschlafen.


Kapitel 3:

Am Samstagmorgen waren Nina und Kurt Becker beizeiten aufgestanden, weil sie für die Fahrt nach Malcesine das Schiff erreichen wollten, auf dem Lorenzo di Salvo als Kapitän tätig war. Am Freitagabend hatten sie ihn in einer Pizzeria in Lazise zufällig beim Abendessen getroffen, deshalb wusste er, dass sie am Samstag seine Fahrgäste sein würden und bis nach Malcesine mit ihm mitfahren wollten. Nina hatte unter anderem erzählt, dass sie bereits am vergangenen Montag angekommen waren und noch mehr als eine Woche, bis zum übernächsten Sonntag, bleiben konnten. 

Rechtzeitig um halb neun standen sie nun am Anleger, der nicht mehr als zweihundert Meter von ihrem Bungalow entfernt war. Lorenzo winkte ihnen zu, als sich die MS Vicenza, die wie die anderen Schiffe am See nach norditalienischen Städten benannt war, langsam dem gepflasterten Steg mit dem kleinen Holzhäuschen, in dem der Ticketverkauf untergebracht war, näherte. Außer den Beckers warteten dort an diesem Morgen nur zwei ältere Damen, die offensichtlich auf dem Weg zum Einkaufen in einem der Orte nördlich von Lazise waren. Gekonnt manövrierte Lorenzo die Vicenza an den Anleger, einer seiner Mitarbeiter warf ein dickes Tau um den massiven Holzpfosten am Ende des Stegs und befestigte das Schiff so, dass die schmale mobile Brücke aus Aluminium für die wartenden Fahrgäste hinübergeschoben werden konnte. Schnell waren die Fahrkarten der vier Zusteigenden kontrolliert, die Brücke und das Tau wieder eingeholt und das Schiff konnte seine Fahrt in Richtung Bardolino, dem nächsten Haltepunkt, fortsetzen. Nina und Kurt Becker gingen wie fast immer durch den Fahrgastraum nach hinten, um sich am offenen Heck des kleinen Schiffes an die Reling zu setzen und den Ausblick auf das vorbeiziehende Ostufer des Sees zu genießen. Kaum hatten sie Platz genommen, kam auch schon Lorenzo zu ihnen, um Nina mit einem Bacino links und rechts auf die Wange und Kurt mit einem kräftigen Händedruck zu begrüßen.
Benvenuto a bordo – schön, dass es tatsächlich geklappt hat.“
Sie bedankten sich für die freundliche Begrüßung.
„Ich wünsche euch eine gute Fahrt und viel Spaß in Malcesine. Wenn ihr wollt, könnt ihr gerne bei mir auf der Brücke vorbeischauen.“
„Danke, das werden wir später gerne machen, Zeit dazu haben wir genug“, antwortete ihm Kurt, der natürlich wusste, dass sie bis Malcesine gut zwei Stunden unterwegs sein würden.
Lorenzo ging auf seinen Kommandostand zurück. Die Beckers saßen ganz alleine am Heck, die wenigen Passagiere, die bereits bei der Abfahrt in Peschiera an Bord gegangen waren, hatten alle am offenen Oberdeck Platz genommen. In dem verglasten Fahrgastraum in der Mitte des Schiffes, in dem sich eine kleine Bar befand, hielt sich kein einziger Passagier auf. Deshalb war die Bar auch nicht besetzt. Kurt Becker lehnte sich auf seiner Sitzbank zurück und ließ sich den warmen Wind durch die Haare fahren.
„So kann man es aushalten“, stellte er zufrieden fest. „Vielleicht sollten wir irgendwann doch einmal eine Kreuzfahrt machen, Nina.“

Schon öfters hatten sie sich darüber unterhalten, ob sie nicht anstatt des regelmäßigen Aufenthaltes in Lazise einmal eine Kreuzfahrt buchen sollten, aber vor allem Nina hatte sich immer davor gescheut, weil sie befürchtete, sie würde sich langweilen.
„Auf einem Schiff voller Rentner können wir in zehn oder fünfzehn Jahren auch noch einchecken“, meinte sie mit dem Vorurteil, nur ältere Semester würden eine Kreuzfahrt unternehmen.
Ihr Mann hatte sich dem immer gebeugt, obwohl er das Vorurteil seiner Frau nicht uneingeschränkt teilte. Anderseits zog es ihn gar nicht so sehr in ferne Länder, weil er sich am Gardasee immer sehr wohl fühlte und es auch sehr praktisch fand, dass er im Notfall innerhalb weniger Stunden mit dem Auto vom Gardasee nach München in seine Firma zurückfahren konnte, falls dort etwas Außergewöhnliches passieren sollte und er dringend vor Ort sein müsste. Nina ging auf Kurts neuerlicher Bemerkung zur Kreuzfahrt nicht ein, sondern stand plötzlich auf.
„Ich glaube, ich habe zum Frühstück zu viel Kaffee getrunken.“
Sie verschwand in Richtung Fahrgastraum, wo sich etwa in der Mitte neben den seitlichen Ausgängen des Schiffes die Toiletten befanden. Als sie wenige Minuten später zurückkam, war das Heck völlig leer.
„Kurt?“
Sie drehte sich um, konnte ihren Mann aber nirgends entdecken.
„Womöglich ist er auch schnell zur Toilette“, sagte sie zu sich selbst und setzte sich an ihren ursprünglichen Platz zurück.
Eine Weile schaute sie der weiß schäumenden Gischt zu, die das Schiff hinter sich her zog. Als Kurt nach fünf Minuten immer noch nicht zurück war, wunderte sie sich doch etwas, weil es nicht seine Art war, wegzugehen, ohne ihr vorher Bescheid zu sagen. Sie stand auf und ging zu den beiden Herrentoiletten, um nachzusehen, ob er sich dort befand und eventuell aus irgendeinem Grund Hilfe brauchen würde. Allerdings waren beide Herrentoiletten unverschlossen und leer.
„Vielleicht ist er schon zu Lorenzo auf die Brücke hinauf.“
Nina stieg aus dem immer noch leeren Fahrgastraum die Treppe zum Oberdeck hinauf, hielt aber auch hier vergeblich Ausschau nach ihrem Mann. Mit schnellen Schritten marschierte sie vor bis zur Brücke.
„Lorenzo, ist Kurt bei dir?“
„Nein, er ist bisher noch nicht heraufgekommen.“
„Eigenartig, er ist verschwunden!“
Außer dem Kapitän befand sich nur ein weiterer Mitarbeiter der Navigarda-Schifffahrtslinie am Kommandostand.
„Verschwunden? Wie soll er denn so einfach von hier verschwunden sein?“
„Ich weiß es nicht, ich war nur kurz auf der Toilette und als ich zurückkam, war er weg. Ich habe ihn schon überall gesucht.“
Plötzlich schoss ihr ein furchtbarer Gedanke durch den Kopf.
„Hoffentlich ist er nicht ins Wasser gefallen.“
Lorenzo schüttelte den Kopf.
„Das kann ich mir nicht vorstellen, dazu müsste er doch fast auf die Reling gestiegen sein.“
Trotzdem stoppte er kurzerhand die Motoren.
„Maurizio, übernimm du inzwischen das Ruder“, forderte er seinen Stellvertreter auf und wandte sich wieder Nina zu.
„Komm, lass uns noch einmal überall nachschauen.“

Lorenzo nahm ein Fernglas aus dem Wandschrank und verließ mit Nina die Brücke. Am Oberdeck saßen nur acht Fahrgäste, deshalb war leicht zu erkennen, dass Kurt Becker nicht darunter war.
„Es geht gleich weiter“, antwortete Lorenzo auf die fragenden Blicke der Passagiere. „Wir haben dann nur noch wenige Minuten bis zum nächsten Halt in Bardolino.“
Im Fahrgastraum ging er von Toilettentür zu Toilettentür, alle waren offen und niemand befand sich dahinter. Bevor er mit Nina zum Heck ging, sperrte er die Glastür zum Bug des Schiffes auf, die nur vom Personal geöffnet werden durfte, weil sich während der Fahrt niemand am Bug aufhalten durfte.
„Hier ist er auch nicht“, stellte Lorenzo fest.
Anschließend überprüfte er neben der Tür zum Heck die Metalltür, die zum Maschinenraum hinunterführte. Sie war fest verschlossen. Als sie dann zum offenen Heck hinausgingen, rief Nina sofort:
„Hier ist er gesessen, als ich zur Toilette gegangen bin.“
Sie deutete auf Kurts Sitzplatz.
„Wenn er auf dem Schiff nirgends zu finden ist, muss er doch über Bord gegangen sein, oder?“
Lorenzo zuckte mit den Schultern.
„Selbst wenn er aufgestanden sein sollte, kann er doch bei dem ruhigen See heute kaum über die Reling gefallen sein.“
Trotz dieser Feststellung stellte er sich an die Reling am Heck, nahm sein Fernglas und blickte über den See zurück in Richtung Lazise. Der vorher von der Schiffsschraube aufgewühlte See hatte sich längst beruhigt, auf der Wasseroberfläche tanzten nur kleine, vom leichten Wind verursachte Wellen.
„Wann genau ist er verschwunden?“
„Wir waren erst ganz kurz unterwegs. Vom Zeitpunkt, als ich zur Toilette ging bis zu dem Stopp der Motoren dürften es etwa zehn Minuten gewesen sein.“
Lorenzo blickte weiter durch sein Fernglas und suchte die Wasseroberfläche ab.
„In zehn Minuten können wir nicht so weit gefahren sein, dass ich ihn nicht mehr sehen würde, falls er im Wasser schwimmen würde.“
Nina wurde immer unruhiger und verzweifelter.
„Aber er muss ins Wasser gefallen sein, er kann sich doch schließlich nicht in Luft aufgelöst haben. Können wir nicht ein Stück zurückfahren?“
„Natürlich, das wollte ich jetzt sowieso machen. Zusätzlich werde ich über Funk auch noch die Küstenwache verständigen und ein Boot anfordern.“
„Lass mir bitte das Fernglas da.“
Er reichte es ihr und ging zur Brücke zurück. Das Heck erzitterte kurz darauf, als die Motoren wieder angeworfen wurden. Während sich die Vicenza langsam umdrehte, kam über die Lautsprecher Lorenzos Durchsage, dass ein Fahrgast abgängig war und sie deshalb umdrehen und ein Stück zurückfahren müssten. Nina starrte unentwegt durch das Fernglas auf den See, erst als das Schiff komplett gewendet hatte, lief sie hinauf auf die Brücke, um von dort aus mit Hilfe des Fernglases den See nach ihrem Mann abzusuchen. Lorenzo hatte inzwischen schon die Küstenwache alarmiert.
„Ich habe ihnen die Koordinaten von dem Punkt durchgegeben, an dem wir etwa gewesen sein dürften, als du zur Toilette gegangen bist.“
„Woher kommt die Küstenwache?“
„Rings um den See sind mehrere Schiffe stationiert, eins davon zum Glück in Bardolino, das hat deswegen den kürzesten Weg.“

Nach einer Fahrt von ungefähr zehn Minuten stoppte Lorenzo erneut die Motoren. Nina Becker saß mittlerweile in Tränen aufgelöst am Oberdeck. Eine der älteren Damen, die mit den Beckers in Lazise zugestiegen waren, versuchte vergeblich, sie etwas zu beruhigen.
Nina schluchzte: „Es muss etwas Schreckliches passiert sein.“