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Kapitel 1:

Ischia zeigte sich wieder einmal von seiner schönsten Seite. Schon am frühen Vormittag schien die Sonne von einem strahlend blauen Himmel, der leichte Wind auf der Insel im Golf von Neapel brachte eine willkommene Erfrischung in der sommerlichen Hitze. Wie an jedem Tag herrschte am Hafen von Ischia Porto ein permanentes Kommen und Gehen. Die großen Autofähren, die von Neapel und Pozzuoli nach Ischia herüberfuhren, brachten nicht nur zahlreiche Urlauber mit sich, sondern auch viele Laster, die die Versorgung der Insel mit Lebensmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs sicherstellten. Die nächste Fähre nach Pozzuoli sollte in wenigen Minuten auslaufen, alle wartenden Autos waren bereits im Bauch des stählernen Kolosses verschwunden. Zum Schluss wurden zwei Reisebusse und drei Laster rückwärts hineinrangiert, damit sie am Hafen in Pozzuoli die Fähre als erstes wieder verlassen konnten. Im Gegensatz zu den Fähren hatten die Schnellboote tagsüber praktisch nur Touristen an Bord. Während die Ischitaner, die in Neapel ihrer Arbeit nachgingen, in der Früh längst mit einem Aliscafo zum Festland gefahren waren, tummelten sich am Vormittag nur ankommende und abreisende Urlauber sowie Tagesausflügler an dem runden Hafenbecken, das ursprünglich der Krater eines längst erloschenen Vulkans war.

Max Hartinger, der in Rosenheim als Kommissar bei der Kripo arbeitete, und seine Frau Chiara hatten zehn wunderschöne Urlaubstage auf Ischia hinter sich. Chiara, eine gebürtige Römerin, war bereits als Kind mit ihrer Familie regelmäßig auf der Insel gewesen, um dort den Urlaub zu verbringen. Nachdem sie ihren Mann kennen gelernt und dann mit ihm eine eigene Familie hatte, war sie weiterhin immer wieder nach Ischia gereist, nicht nur, weil ihr einziger Bruder Francesco mit einer Ischitanerin verheiratet und schon seit mehr als dreißig Jahren in Ischia Porto als Carabiniere stationiert war. Schon öfter hatten Max und Chiara von Ischia aus einen Tagesausflug nach Capri unternommen. Nun warteten sie, mit der Chiesa Santa Maria di Portosalvo im Rücken, an der Anlegestelle für die Ausflugsschiffe, die die Urlauber jeden Dienstag, Donnerstag und Sonntag nach Capri und Amalfi brachten. An diesem schönen Juni-Dienstag standen sie allerdings mit Gepäck für mehrere Tage am Anleger. Sie wollten eine Nacht auf Capri verbringen, sich am Abend des zweiten Tages mit einem Freund von Max treffen und an Bord seiner Yacht gehen, um im Golf von Neapel und entlang der Amalfi-Küste den Sommer einige Tage auf dem Wasser zu genießen. Danach wollten sie noch einmal für zwei Tage nach Ischia zurückkehren, weshalb sie auch einen Teil ihres Gepäcks bei Francesco und seiner Frau Giulia zurückgelassen hatten. „Eigentlich sollte unser Schiff längst da sein“, stellte Max mit einem Blick auf seine Uhr fest. Chiara lachte laut los. „Max, nach so vielen Jahren solltest du eigentlich wissen, dass man einen italienischen Fahrplan nicht allzu ernst nehmen sollte. Außerdem kann es bei zwei Zwischenstopps schon einmal zu ein paar Minuten Verspätung kommen.“ Das Ausflugsschiff der Capitan Morgan Schifffahrtsgesellschaft startete im Westen der Insel in Forio, nahm an der Nordküste in Lacco Ameno und Casamicciola weitere Fahrgäste auf, um dann nach dem letzten Halt in Ischia Porto auf direktem Weg über den Golf von Neapel nach Capri zu fahren. An diesem Vormittag passierte das weiß-blaue Schiff Freccia del Golfo mit einer Viertelstunde Verspätung den kleinen rotbraunen Leuchtturm an der Hafeneinfahrt von Ischia Porto. Im Hafenbecken steuerte der Kapitän direkt auf den Anleger zu, stoppte sein Schiff kurz davor, drehte es um einhundertachtzig Grad und fuhr rückwärts bis zur Kaimauer. Sobald das Schiff nahe genug an der Mauer war, wurden zwei dicke Taue an Land geworfen und an massiven Eisenpollern befestigt. Dann wurde der schmale Alu-Steg vom Heck heruntergelassen, ein Besatzungsmitglied ging von Bord und blieb direkt neben dem Steg stehen, um von allen zusteigenden Passagieren die Fahrkarten zu kontrollieren. „Am Oberdeck sind offenbar schon alle Plätze belegt“, bedauerte Max, als er mit Chiara in der Warteschlange hinter einigen anderen Fahrgästen stand und wartete, auch an Bord gehen zu können. „Sieh es positiv, Max, dann brauchen wir unser Gepäck wenigstens nicht über die steile Treppe nach oben schleppen. Außerdem kennen wir die Strecke nach Capri doch schon zur Genüge.“ Das Unterdeck der Freccia del Golfo bestand fast vollständig aus einer klimatisieren Schiffskabine, nur am Heck waren außerhalb der Kabine noch ein paar Sitzplätze im Freien vorhanden. Max machte gar nicht erst den Versuch, am offenen Oberdeck noch nach zwei freien Plätzen zu suchen, er trug ihr Gepäck direkt in die Kabine hinein. Chiara, die vor ihm ging, nahm sofort drei freie Plätze direkt am Fenster auf der rechten Seite des Schiffes in Beschlag. Max hob einen der kleinen Koffer auf den äußersten der drei Plätze, wartete, bis Chiara direkt am Fenster Platz genommen hatte, zog dann den zweiten Koffer hinter sich in den Fußraum vor dem anderen Koffer und setzte sich auf den Platz neben seiner Frau. „Hier auf der rechten Seite sehen wir wenigstens noch etwas von der Insel.“ „Ich wäre trotzdem lieber im Freien gesessen“, antwortete Max etwas mürrisch. „Ach, mein alter Brummbär“, lachte Chiara. „In der nächsten Woche kannst du doch noch zur Genüge im Freien sitzen, wenn wir mit Emilios Yacht unterwegs sind.“ Als sich das Schiff in Bewegung setzte, drehte sich Chiara sofort zum Fenster. Auf der rechten Seite des Hafenbeckens reihte sich ein Ristorante an das andere, am frühen Vormittag waren die vielen Tische im Freien aber noch alle leer. Hinter der schmalen Hafeneinfahrt drehte der Kapitän sofort scharf nach rechts, fuhr an den Stränden von Ischia Porto und Ischia Ponte vorbei und meldete sich währenddessen über das Bordmikrofon, um die in Ischia Porto zugestiegenen Fahrgäste zu begrüßen. Danach machte er alle darauf aufmerksam, dass sie gerade am Wahrzeichen von Ischia, dem mächtigen Castello Aragonese, das auf einem riesigen, der Insel vorgelagerten Festungsfelsen thront, vorbeifuhren. Er wünschte eine gute Fahrt und wies darauf hin, dass sich eine Reiseleiterin in Kürze übers Mikro melden würde, um die verschiedenen Ausflugsmöglichkeiten auf Capri vorzustellen. Nachdem sie das Castello passiert hatten, lehnte sich Chiara auf ihrem Sitz zurück, denn für die nächste Dreiviertelstunde blieb nur noch der Blick auf das tiefblaue Meer. Max versuchte, auf seinem Smartphone eine deutsche Nachrichtenseite aufzurufen, der Empfang auf dem Schiff war aber mäßig, sodass es sehr lange dauerte, bis sich die Seite überhaupt öffnete. Deswegen überflog er nur kurz die Schlagzeilen und verzichtete darauf, einzelne Artikel zu öffnen. „Das kann ich später auf Capri auch noch machen“, sagte er zu sich selbst. Kaum hatte er sein Smartphone weggesteckt, erklang, wie vom Kapitän angekündigt, die Stimme der Capitan Morgan-Reiseleiterin übers Bordmikro. Zuerst erzählte sie auf Italienisch, dann auch noch auf Deutsch und Englisch, welche Ausflugsmöglichkeiten auf Capri angeboten wurden, wie die einzelnen Touren aussahen und zu welchem Preis man sie gleich an Bord buchen konnte. An erster Stelle stand natürlich die Bootsfahrt vom Hafen Marina Grande zur Grotta Azzurra, der Blauen Grotte, die meistbesuchte Sehenswürdigkeit von Capri. Außerdem wurde eine Insel-Rundfahrt mit dem Boot angeboten, ebenfalls mit einem Stopp an der Blauen Grotte. Die dritte Ausflugsmöglichkeit war eine Tour mit dem Bus von Marina Grande hinauf nach Anacapri inklusive einer Führung in der vom berühmten schwedischen Arzt und Schriftsteller Axel Munthe erbauten Villa San Michele. „Max, was hältst du davon, wenn wir heute auch nach Anacapri rauffahren? Es ist doch schon ewig her, dass wir uns die Villa San Michele angeschaut haben und bei der klaren Sicht müsste der Blick von dort oben heute besonders schön sein.“ „Das können wir gerne machen. Vielleicht haben wir Glück und unser Hotelzimmer ist bereits frei.“ „Wenn nicht, dann ist es doch auch kein Problem, unser Gepäck können wir sicher schon an der Rezeption abgeben, damit es eingesperrt wird, bis wir einchecken können.“

Max und Chiara hatten noch keine konkreten Pläne für die zwei Tage auf Capri gemacht. Sie wollten den schlimmsten Touristenströmen möglichst aus dem Weg gehen, auch wenn das meistens sehr schwierig bis fast unmöglich war. Am meisten freuten sie sich darauf, die Insel auch einmal abends und morgens zu erleben, wenn die unzähligen Tagestouristen abgereist waren und am anderen Tag noch keine neuen über die Insel hergefallen waren. Viele Capri-Reisende, vor allem aber die Capresen selbst, waren der Meinung, dass man die wahre Schönheit der Insel nur erleben konnte, wenn am frühen Abend das letzte Schiff mit den Tagesausflüglern am Hafen von Marina Grande abgelegt hatte. Für die eine Übernachtung auf der Insel hatten sich Max und Chiara ein Zimmer in einem kleinen Hotel in Capri Stadt reserviert. Das war ein guter Ausgangspunkt für viele der Sehenswürdigkeiten, die die Insel bot. Je nach Lust und Laune wollten sie spontan entscheiden, was sie unternehmen würden. „Die Villa Jovis würde mich auch interessieren, dorthin könnten wir morgen gleich nach dem Frühstück wandern, wenn es noch nicht so heiß ist“, schlug Max vor und Chiara nickte zustimmend. „Wir haben sie uns einmal angesehen, als Francesco und ich noch Kinder waren, seitdem war ich nicht mehr dort.“

Die Villa Jovis lag auf dem Monte Tiberio ganz im Osten der Insel mit einem grandiosen Ausblick auf die Halbinsel von Sorrent, den Golf von Neapel und natürlich den Vesuv. Kaiser Tiberius hatte sie um das Jahr siebenundzwanzig nach Christus errichten lassen, als er seinen Amtssitz von Rom nach Capri verlegte und dann die letzten zehn Jahre seines Lebens auf der Insel verbrachte. Während seiner Zeit auf Capri wurde Jesus in Jerusalem gekreuzigt. Tiberius war wegen seiner Grausamkeiten gefürchtet. Immer wieder soll er diejenigen Personen, die er aus dem Weg räumen wollte, in seine Villa zum Essen eingeladen haben, anschließend ließ er sie von einem Felsvorsprung, bei dem es circa vierzig Meter senkrecht nach unten geht, in die Tiefe, ins Meer stürzen. Die steile Felswand wird noch heute Salto di Tiberio, Tiberius-Sprung, genannt.

Während Max darüber nachdachte, was sie sich noch alles ansehen könnten, ging die Reiseleiterin von Sitzreihe zu Sitzreihe und versuchte, die noch unentschlossenen Touristen dazu zu bewegen, einen der drei Ausflüge zu buchen. Wer sich dafür entschied, musste sofort bezahlen und bekam dann je nach Ausflugsart einen farbigen Punkt aufs T-Shirt oder die Bluse geklebt, damit man in dem Getümmel der Touristen in Marina Grande später besser feststellen konnte, wer zu welcher der drei Gruppen gehörte. „Sie bleiben wohl länger auf Capri“, meinte die Reiseleiterin mit Blick auf das neben Max stehende Gepäck. „Möchten Sie vielleicht gleich heute einen schönen Ausflug machen?“ „Vielen Dank. Die Villa San Michele und die Blaue Grotte kennen wir schon und eine Insel-Rundfahrt können wir ab morgen selbst machen, weil wir da für ein paar Tage an Bord einer Yacht gehen.“ „Das hört sich doch wunderbar an. Dann wünsche ich Ihnen ein paar schöne Tage.“ „Vielen Dank.“ Als sich Max zu Chiara umdrehte, sah er, dass sie die Augen geschlossen hatte, offenbar war sie eingenickt. Das gleichmäßige, monotone Brummen der Schiffsmotoren sowie der praktisch nicht vorhandene Wellengang konnten schon dazu beitragen, dass man einschlummerte. Max wollte aber nicht schlafen, er stand auf und ging zum offenen Heck hinaus. Dort konnte er, wenn er sich leicht über die seitliche Reling beugte, sehen, wie Capri näher und näher kam. Trotz des mäßigen Handy-Empfangs schrieb er seinem Freund Emilio eine kurze WhatsApp-Nachricht, dass sie bald in Marina Grande ankommen würden. Emilio antwortete sofort. „Wir lagen gestern in Marina di Camerota vor Anker, gerade sind wir beim Capo Palinuro. Die Cilento-Küste ist traumhaft schön. Ich freue mich auf morgen.“  

Max hatte Emilio Brentani einige Jahre zuvor in Lazise am Gardasee kennen gelernt. Im Rahmen eines EU-weiten Programms zur Verbesserung der inneren Sicherheit sollte damals ein bayerischer Kriminaler für vier Wochen mit einem italienischen Carabinere den Arbeitsplatz tauschen. Nicht nur im Rosenheimer Polizei-Präsidium, sondern bis in die Führungsspitze der bayerischen Polizei war bekannt, dass Max bei seinen vielen Italien-Urlauben immer wieder in italienische Kriminalfälle hineingestolpert war und jeweils einen großen Anteil daran gehabt hatte, dass diese teils spektakulären Fälle gelöst werden konnten. Deswegen wurde er ausgewählt, um zum ersten Mal ganz offiziell in Italien zu ermitteln. Da Lazise seit 1979 eine Partnerstadt von Rosenheim ist, lag es nahe, Max im Rahmen des Austauschprogramms dorthin zu schicken. Im Gegenzug kam einer der Carabiniere von Lazise nach Rosenheim und nahm für vier Wochen den Platz von Max ein. Maresciallo Emilio Brentani war damals bereits der Leiter der Carabinieri-Einheit von Lazise und somit für vier Wochen der Vorgesetzte von Max. Bei der gemeinsamen Arbeit an einem schwierigen, undurchsichtigen Vermisstenfall lernten sie sich nicht nur gegenseitig schätzen, sie freundeten sich auch an. Auch Chiara, die Max natürlich am Gardasee besuchte, verstand sich auf Anhieb sehr gut mit Emilio, deswegen waren sie nach der Rückkehr von Max nach Rosenheim in Kontakt geblieben und hatten sich immer wieder einmal in Italien getroffen. Emilio und seine Frau Elisabetta hatten Max und Chiara auch schon in Rosenheim besucht. Diese Reise nach Bayern hatte Emilio bewusst in die Zeit des Münchner Oktoberfestes gelegt, weil er die Münchner Wiesn, von der ihm schon viele italienische Landsleute vorgeschwärmt hatten, auch einmal live erleben wollte. Auf der Fahrt von Rosenheim nach München musste Max natürlich erzählen, wie er und Chiara sich auf dem Oktoberfest zum ersten Mal begegnet waren. Max, damals siebenundzwanzig, war mit seinem besten Freund unterwegs gewesen, um über die Trennung von seiner Freundin hinwegzukommen. Chiara, zwei Jahre jünger als Max, hatte mit einer Studienfreundin, die wie sie an der Universität La Sapienza in Rom Germanistik studiert hatte, ein paar Tage in München verbracht. Im Gedränge zwischen den Schaustellerbuden kam es zu dem folgenreichen Zusammenstoß von Chiara und Max, bei dem es bei beiden sofort gefunkt hatte. Keine zwei Jahre später läuteten in Oberbayern die Hochzeitsglocken für die beiden. Im Jahr darauf kam Martina zur Welt, wiederum zwei Jahre später war mit der Geburt von Elena die Familie komplett. Mittlerweile hatte Martina selbst schon eine kleine Familie, der kleine Sebastian, das erste Enkelkind von Max und Chiara, war einundzwanzig Monate alt. Elena, die beruflich in die Fußstapfen von ihrem Vater getreten war und ebenfalls bei der Kripo arbeitete, war inzwischen auch verheiratet. Kurz vor der Abreise ihrer Eltern nach Ischia war sie mit ihrem Mann Carlos, einem Deutsch-Spanier, von der Hochzeitsreise nach Mallorca, der Heimat von Carlos‘ Vater, zurückgekommen.  

„Wir freuen uns auch, dich wieder zu sehen und sind natürlich sehr gespannt auf deine Yacht. Bis morgen“, antwortete Max auf die Nachricht von Emilio. Danach ging er auf seinen Platz neben Chiara zurück. Als er sich hinsetzte, schlug sie die Augen auf. „Gut geschlafen, mein Schatz?“ „Richtig geschlafen habe ich gar nicht, eher nur ein bisschen geschlummert.“ „Emilio hat geschrieben, dass er mit seiner Yacht gerade die Cilento-Küste entlangfährt.“ Chiara, die auf ihrem Sitz etwas nach unten gerutscht war, setzte sich abrupt auf. „Das wäre doch auch etwas für uns. Anstatt hier im Golf von Neapel herumzufahren, wo wir ohnehin schon sehr viel kennen, könnten wir doch gleich die Costiera Amalfitana entlangfahren und von dort über den Golf von Salerno weiter Richtung Süden.“ „Von mir aus gerne. Allerdings weiß ich nicht, was Emilio schon konkret geplant oder vielleicht sogar bereits fix gebucht hat. Aber wenn er einverstanden ist, spricht nichts gegen die Cilento-Küste.“ 

Mittlerweile sahen sie auch von ihrem Sitzplatz aus ihr Ziel rasch näherkommen. Im Hafen Marina Grande lagen bereits einige Schiffe, die Tagesausflügler nach Capri brachten, vor Anker. Auf der Freccia del Golfo wurden die ersten Passagiere unruhig, ein älteres Ehepaar war sogar schon vom Oberdeck zum Heck des Schiffes heruntergekommen, um als erstes von Bord gehen zu können. Auf den Plätzen vor Max und Chiara wurden bereits die ersten Caps oder Strohhüte aufgesetzt und ein paar Rucksäcke vom Fußboden auf die Knie hinaufgehoben, um bei der Ankunft das Schiff schnell verlassen zu können. Aber auf dem Wasser täuschte die Entfernung etwas, es dauerte noch fast eine Viertelstunde, bis die Freccia del Golfo im Hafen Marina Grande anlegte. Max und Chiara ließen sich von der Hektik nicht anstecken, Max trug die Koffer von Bord und zog erst dann die beiden Teleskopgriffe heraus, um die Koffer hinter sich her ziehen zu können. Zuerst mussten sie sich erst einmal einen Weg durch das Getümmel der Touristen bahnen, schnell vermischten sich die Ankömmlinge von der Freccia del Golfo mit anderen, gerade angekommenen Touristen, während die Capitan Morgan-Reiseleiterin versuchte, ihre drei Ausflugsgruppen zusammen zu bringen. Wie hungrige Raubtiere stürzten sich auch einige Einheimische auf die nächste Touristen-Lieferung. Die einen versuchten, gleich Kundschaft für ihre Taxis zu bekommen, andere wollten die Touristen sofort auf eines der Boote zur Blauen Grotte schleusen und wieder andere baten ihnen einen Platz in ihren umliegenden Cafés und Ristoranti an. Max und Chiara ließen alles an sich abprallen und waren froh, als sie dem ersten Trubel entkommen waren. Sie marschierten die Via Cristoforo Colombo entlang, rechts lagen Fischerboote im seichten Wasser oder am flachen Ufer, links reihte sich ein Souvenirladen an den nächsten, dazu kamen kleine Lebensmittelläden, eine Apotheke und einige Ristoranti. Zwischen zwei Bars befand sich, leicht zu übersehen, der Zugang zur Funicolare. Dort blieb Max stehen und stellte die beiden Koffer neben Chiara. „Bleib du hier, ich hole uns schnell die Tickets.“ Schräg gegenüber, neben einem ockergelben Gebäude, in dem die Capitaneria del Porto sowie die Guardia Costiera ihren Sitz hatten, war der zentrale Ticketverkauf, bei dem man an verschiedenen Schaltern nicht nur Fahrkarten für die diversen Schiffsverbindungen oder alle Buslinien auf Capri bekam, sondern auch die Fahrkarten für die Funicolare

Die Funicolare ist eine Standseilbahn, die den Hafen Marina Grande mit Capri Stadt verbindet. Zwischen Gärten und Zitronenhainen überwindet die eingleisige Bahn einhundertzweiundvierzig Höhenmeter, nur in der Mitte der Strecke gibt es eine Ausweichstelle, an der sich die gleichzeitig nach oben und unten fahrenden Züge begegnen. Erbaut wurde sie 1907.  

Auf der Insel waren nur Busse, Taxis und die Capresen selbst mit ihren eigenen Autos unterwegs, Touristen konnten keine Autos mit auf die Insel bringen, dafür war schlicht und ergreifend kein Platz, deswegen waren alle, die nicht den ganzen Tag zu Fuß unterwegs sein wollten, auf die Busse und Taxis angewiesen. Die meisten aber, die erst einmal nach Capri hinauf wollten, nahmen die Funicolare. Die Schlange vor dem Ticketschalter hielt sich an diesem Tag noch in Grenzen, Max musste nicht lange warten, bis er die beiden Einzelfahrkarten kaufen konnte. Als er sich umdrehte und zu Chiara zurückging, fiel ihm ein Mann auf, der so gar nicht in die Szenerie passte. Er machte einen ungepflegten Eindruck, der Vollbart war zerzaust, das T-Shirt und die kurzen Hosen nicht gerade sauber. Es handelte sich eindeutig um keinen Touristen, aber offenbar auch nicht um einen Capresen, der sein Geld mit dem Tourismus verdiente. Er schlenderte die Via Cristoforo Colombo entlang und blickte neugierig umher. Max blieb instinktiv stehen, um ihn weiter zu beobachten. Dieser kurze Halt brachte dem Bärtigen allerdings einen entscheidenden Vorsprung. Denn plötzlich lief er völlig überraschend los und Max wurde sofort klar, dass er es auf Chiara abgesehen hatte. Selbst auch loslaufend rief er noch „Chiara! Achtung!“, aber seine Warnung kam zu spät. Bevor sie reagieren konnte, hatte der Bärtige sie erreicht, riss ihr die Handtasche vom Arm, drehte sich um und lief in Richtung Schiffsanleger davon. Wahrscheinlich wollte er im Getümmel der Touristen untertauchen, aber er hatte Max, wenn er ihn vorher überhaupt richtig wahrgenommen hatte, unterschätzt. Max rannte ihm hinterher, an der schreienden Chiara vorbei, und hatte ihn trotz seines Übergewichts und seiner nicht gerade berauschenden Kondition schon nach wenigen Metern eingeholt. Er bekam ihn am Ärmel des T-Shirts zu packen, der Handtaschenräuber versuchte sich loszureißen, kam dadurch ins Straucheln, stolperte und fiel mit dem linken Knie voraus auf die gepflasterte Straße. Max, der das T-Shirt loslassen musste, als der Dieb hinfiel, stürzte sich sofort auf ihn, packte ihn und drehte ihm den linken Arm auf den Rücken. Die Touristen in nächster Nähe hatten natürlich beobachtet, was passiert war, durch den Schmerzensschrei des am Boden liegenden Diebs wurden aber auch die Gäste der Bar, die direkt neben dem Eingang zur Funicolare liegt, darauf aufmerksam, dass mitten auf der Straße etwas Ungewöhnliches passierte. Sofort scharten sich immer mehr Touristen um Max und den Dieb und aus ihrem zum Teil lautstarken Rufen war herauszuhören, dass einige davon ausgingen, dass Max der Bösewicht und der Bärtige das Opfer war. Inzwischen stand auch Chiara mit ihrem Gepäck neben den beiden. „Gut, dass du so schnell reagiert hast, Max.“ Im selben Augenblick kam der Kellner der Bar dazu, um nachzusehen, was auf der Straße vor sich ging. „Könnten Sie bitte die Carabinieri rufen“, bat ihn Chiara. Ohne nachzufragen zog der Kellner sein Handy aus der Hosentasche und kam der Bitte von Chiara nach. Offenbar war es schon öfter notwendig gewesen, bei den Carabinieri anzurufen, denn die Nummer war ganz offensichtlich eingespeichert gewesen. Nach einem kurzen Wortwechsel steckte der Kellner sein Handy wieder in die Tasche. „Die sind in ein paar Minuten da. Kann ich Ihnen helfen, Signora?“ „Hätten Sie bitte ein Glas Wasser für mich?“ „Natürlich, kommt sofort.“ Er drehte sich um und ging in die Bar hinein. Unterdessen stieß der Handtaschenräuber immer wieder kurze Schreie aus, verwünschte Max und beschimpfte ihn. Der ließ sich davon aber nicht beeindrucken, denn solange er den Dieb mit dem auf den Rücken gedrehten Arm fest im Griff hatte, konnte sich dieser nicht aus seiner Zwangslage befreien. Einige der um sie herumstehenden Touristen entfernten sich schon wieder, sie erwarteten offenbar nicht, dass hier noch etwas Spektakuläres passieren würde. Die meisten hatten mitbekommen, dass der Kellner bei den Carabinieri angerufen hatte, trotzdem wurde die Menschenmenge um Max herum immer größer, weil alle Tagestouristen, die zur Funicolare oder zur zentralen Bushaltestelle neben dem Ticketschalter wollten, an ihm vorbeigehen mussten. Fast jeder, der neu dazukam, fragte in die Menge hinein, was da passiert sei. Das Gemurmel der Schaulustigen wurde noch größer, als man plötzlich das rasch lauter werdende Martinshorn des Einsatzwagens der Carabinieri hören konnte. „Wenn die so schnell da sind, dann waren sie wahrscheinlich gerade nicht unterwegs, sondern in der Stazione“, mutmaßte der Kellner, der neben Chiara stehen geblieben war, nachdem er ihr ein großes Glas Wasser gebracht hatte. Chiara trank das Glas hastig leer und gab es dem Kellner zurück. Er schüttelte sofort mit dem Kopf, als sie ihn fragte, was er für das Wasser bekäme. „Das geht aufs Haus, Signora. Ich würde mich freuen, wenn wir Sie und Ihren Mann in den nächsten Tagen einmal bei uns begrüßen könnten.“ „Grazie mille. Wir sind zwar nur bis morgen auf der Insel, aber wir kommen natürlich gerne einmal vorbei.“  

Auf der Höhe der Capitaneria del Porto geht die Via Cristoforo Colombo in die Via Marina Grande über, die sich mit Spitzkehren und langgezogenen Kurven hinauf nach Capri schlängelt. Kurz vor der Ortsgrenze von Capri liegt das Comando Stazione Carabinieri Capri, wobei sowohl die Einheimischen, als auch die Carabinieri selbst immer nur von der Stazione sprechen. Die diensthabenden Carabinieri hatten es also nicht sehr weit bis zum Tatort in Marina Grande. Das Martinshorn wurde immer lauter, dann war der dunkelblaue Fiat mit den großen, weißen Carabinieri-Schriftzügen an den Türen auch schon auf der letzten Spitzkehre hinunter zur Via Cristoforo Colombo zu sehen. Die Touristen gingen schleunigst zur Seite, als der Fiat Panda mit deutlich reduziertem Tempo durch die Menge fuhr und direkt neben Max und Chiara anhielt. Zwei jüngere Carabinieri stiegen aus, beide waren sehr groß. Der Fahrer des Fiat war offenbar der ältere der beiden, er schien sehr durchtrainiert, für seine starken Oberarme war das blaue Hemd fast zu eng. Sein Kollege dagegen war schlank und hatte kantige Gesichtszüge, die trotzdem noch sehr jugendlich wirkten. Max sah an der Uniform sofort, dass der Fahrer den Dienstgrad des Vice Brigadiere hatte und sein Kollege Appuntato war. „Buongiorno Vice Brigadiere, der Kerl hier hat meiner Frau die Handtasche geklaut“, erzählte Max, bevor einer der Carabinieri überhaupt etwas gesagt hatte. „Buongiorno“, erwiderte der Fahrer. „Ich bin Vice Brigadiere Nino Moiano, das ist mein Kollege, Appuntato Agostino Corsano. Stehen Sie bitte erst einmal auf.“ Max erhob sich langsam, gefasst darauf, noch einmal zuzupacken, falls der Dieb versuchen sollte, zu fliehen. Der aber drehte sich erst einmal vom Bauch auf den Rücken, wobei Chiaras Tasche zum Vorschein kam, und setzte sich auf. Zuerst begutachtete er sein blutverschmiertes Knie, dann stand auch er langsam auf. Sofort griff Chiara nach ihrer Tasche. „Das ist meine“, sagte sie energisch. „Ich stand dort drüben beim Eingang zur Funicolare, da kam der Kerl von hinten und hat sie mir vom Arm gerissen, Vice Brigadiere. Zum Glück war mein Mann in der Nähe und konnte verhindern, dass er damit abhaut.“ Unterdessen hatte Max seinen Dienstausweis von der Kripo in Rosenheim aus seinem Geldbeutel hervorgeholt und hielt ihn dem Vice Brigadiere unter die Nase. „Ich arbeite in Bayern bei der Kriminalpolizei, wir sind also sozusagen Kollegen.“ Der Vice Brigadiere zog überrascht die Augenbrauen hoch und nickte dann, als er einen Blick auf den Dienstausweis geworfen hatte. „Signori, ich schlage vor, wir fahren jetzt zur Stazione rauf und besprechen dort alles weitere, dann halten wir hier den Betrieb nicht weiter auf.“ Der Einzige, der wenig erfreut war, nun in einem Carabinieri-Dienstwagen mitfahren zu müssen, war der bärtige Dieb. Appuntato Corsano öffnete die Beifahrertür, ließ Chiara einsteigen und verstaute das Gepäck von ihr und ihrem Mann im Kofferraum. Er musste die Heckklappe einmal kräftig zudrücken, bis das Schloss einrastete. Dann quetschten er und Max sich auf die Rückbank des kleinen Fiat Panda und nahmen dabei den Dieb in die Mitte, damit er während der kurzen Fahrt keine Dummheiten machen konnte. Zum Glück waren Corsano und der Dieb sehr schlank, wenn alle drei so eine Figur wie Max gehabt hätten, dann wären die Türen wahrscheinlich nicht mehr zugegangen. Vice Brigadiere Moiano wendete den Fiat und fuhr das kurze Stück zur Stazione hinauf.  

Der niedrige, beige Bau der Stazione lag hinter einer engen Kurve auf der linken Seite der Via Marina Grande, die Ortsgrenze von Capri war nur noch ungefähr zweihundert Meter entfernt. Direkt gegenüber war eine kleine Feuerwache. Die Straße war so eng, dass es auf beiden Straßenseiten nur wenige Parkmöglichkeiten gab. Moiano wendete und musste dann seine Mitfahrer erst aussteigen lassen, damit er den Fiat Panda ganz eng an der Hausmauer abstellen konnte. Nachdem auch er ausgestiegen war, ging Moiano voraus in die Stazione hinein, direkt in einen großen Besprechungsraum, wo er Max, Chiara und den Bärtigen an dem in der Mitte stehenden Tisch Platz nehmen ließ. Er wartete solange, bis Corsano sein Notebook aus seinem Büro geholt hatte und setzte sich zusammen mit ihm ebenfalls an den Tisch. Dann wandte er sich zuerst an den Bärtigen. „Können Sie sich ausweisen?“ Der Dieb nickte stumm, fingerte in seiner Hosentasche herum und zog dann einen kleinen, ziemlich ramponierten Geldbeutel hervor, in dem sein Ausweis steckte. Wortlos reichte er seinen italienischen Personalausweis, der wie in Deutschland im Scheckkartenformat ausgestellt wird, über den Tisch. Moiano warf einen kurzen Blick darauf, las nur den Namen Bruno Arenaccia und den Wohnsitz Marina Grande, dann gab er den Ausweis an seinen Kollegen weiter, der die Daten sofort in das Protokoll auf seinem Notebook eingab. „Also, Signor Arenaccia“, begann der Vice Brigadiere. „Sie haben in Marina Grande gehört, was uns die Signora über den Vorfall am Eingang zur Funicolare erzählt hat. Was haben Sie dazu zu sagen?“ Arenaccia zuckte mit den Schultern. „Was soll ich dazu schon sagen?“ „Haben Sie der Signora die Handtasche vom Arm gerissen oder nicht?“ Nach kurzem Zögern nickte Arenaccia. „Es ist schon eine ziemlich blöde Idee, ausgerechnet der Frau von einem Commissario die Tasche klauen zu wollen, noch dazu, wenn der Commissario auch noch ganz in der Nähe ist.“ Bruno Arenaccia starrte Max mit offenem Mund an, sagte aber nichts. Er reagierte erst, als ihm Corsano seinen Personalausweis zurückgab. Schnell steckt er ihn wieder in seinen Geldbeutel, als ob er Angst haben müsste, dass ihm einer der Anwesenden seinen Ausweis ganz wegnehmen könnte. Corsano fragte ihn anschließend noch nach einigen persönlichen Angaben, die nicht auf dem Ausweis zu finden waren und tippte alle Daten in sein Notebook. „Commissario, die Ausweise von Ihnen und Ihrer Frau bräuchte ich jetzt auch noch.“ Max war darauf vorbereitet gewesen und hatte deswegen seinen Personalausweis bereits in der Hand gehabt. Während Corsano die Daten von Max erfasste, holte Chiara ihren Ausweis aus der Handtasche und schob ihn Corsano über den Tisch. Der Appuntato war überrascht, als er von ihr auch einen italienischen Personalausweis bekam, sagte aber nichts dazu. „Haben Sie schon nachgesehen, ob etwas aus Ihrer Tasche fehlt, Signora?“, fragte Moiano, während Corsano weiter tippte. „Es ist noch alles drin, aber die Tasche ist leider ruiniert.“ Demonstrativ stellte sie ihre Handtasche auf den Tisch. Durch den Sturz von Arenaccia auf die Tasche war das dunkle Leder auf einer Seite durch mehrere tiefe Kratzer erheblich beschädigt. „Für den Schaden muss Signor Arenaccia selbstverständlich aufkommen.“ „Hätte der sich nicht auf mich gestürzt, dann wäre der Tasche auch nichts passiert“, schimpfte Arenaccia los und deutete vorwurfsvoll auf Max. „Hätten Sie seiner Frau die Tasche vorher nicht geklaut, dann hätte der Commissario sich auch nicht auf Sie stürzen müssen. Ich denke, der Sachverhalt ist eindeutig geklärt, nun müssen Sie eben die Konsequenzen für Ihr Handeln tragen.“

Da er sich mit Arenaccia auf keine Diskussion einlassen wollte, stand der Vice Brigadiere auf und verließ den Besprechungsraum. Wegen des Handtaschenraubes konnte er ihn nicht verhaften, bevor er ihn wieder laufen lassen musste, wollte er sich noch seine eventuell vorhandenen Vorstrafen ansehen. In seinem kleinen Büro gab er Bruno Arenaccias Daten in die Erfassungsmaske eines zentralen Registers ein und bekam sofort einige Delikte angezeigt. Bereits der jugendliche Bruno war immer wieder mit Schlägereien auffällig geworden, später war er mehrfach beim Ladendiebstahl erwischt worden. Mittlerweile war er achtunddreißig und offenbar schon länger arbeitslos. „Ein typischer Kleinkrimineller, der ständig knapp bei Kasse ist“, dachte sich Moiano. Da gegen Arenaccia aktuell außer dem Handtaschenraub nichts vorlag, gab es für den Vice Brigadiere keinen Grund, ihn in eine der beiden Einzelzellen zu stecken, die es in der Stazione gab. Als er in den Besprechungsraum zurückkam, hatte Corsano das Protokoll bereits fertiggestellt. Der Appuntato hatte schon auf seinen Kollegen gewartet, damit er in seinem Büro das Notebook an den Drucker anschließen und das Protokoll ausdrucken konnte. Mit dem Ausdruck, den nicht nur Arenaccia, sondern auch Max und Chiara unterschreiben mussten, ging er dann in den Besprechungsraum zurück. Der Vice Brigadiere war gerade dabei, Arenaccia zu erklären, dass er ihn wieder laufen lassen würde. „Für uns ist die Arbeit abgeschlossen, aber wir müssen den Vorfall natürlich an die zuständigen Justizbehörden weitergeben, die gegebenenfalls noch einmal auf Sie zukommen werden.“ Arenaccia hörte wieder nur stumm zu und zeigte keine Regung. Nachdem alle drei das Protokoll unterschrieben hatten, wandte sich Moiano an Chiara. „Wie viel hat Ihre neue Handtasche denn gekostet?“ „Einhundertzwanzig Euro.“ „Signor Arenaccia, Sie haben es gehört. Wie gedenken Sie, der Signora den Schaden zu ersetzen?“, spielte der Vice Brigadiere den Ball dem Dieb zu. „Wenn ich einhundertzwanzig Euro hätte, dann hätte ich sicher nicht versucht, die Tasche zu stehlen. Aber vielleicht habe ich demnächst wieder etwas Geld, dann kann ich die einhundertzwanzig Euro bezahlen.“ Zum ersten Mal hatte Arenaccia, wenn auch nur kurz, ein Lächeln auf dem Gesicht. Chiara bat Corsano um einen Zettel und einen Stift. Der drehte sich um und holte von einem langen Sideboard, das hinter ihm stand, einen Notizzettel sowie einen Kugelschreiber und reichte ihr beides über den Tisch. Chiara schrieb ihren Namen und die IBAN ihres Kontos auf, riss das Blatt vom Block und gab es Arenaccia. „Hier sind meine Kontodaten.“ Bruno Arenaccia faltete den Zettel zusammen und steckte ihn in die Hosentasche. „Kann ich jetzt gehen?“, fragte er dann sofort. „Ja, natürlich“, antwortete ihm Moiano. Arenaccia und auch Max und Chiara standen auf. Ohne noch ein Wort zu verlieren, verließ der gescheiterte Dieb den Besprechungsraum und die Stazione.

Max bedankte sich bei Moiano für seine Hilfe und verabschiedete sich auch von Corsano mit einem Handschlag. „Ich komme mit Ihnen hinaus, Ihr Gepäck ist doch noch in unserem Auto“, erwiderte Corsano und ging mit Max und Chiara vors Haus. Als sie hinauskamen, sahen sie gerade noch, wie Bruno Arenaccia bergab ging und bereits die erste Kurve unterhalb der Stazione erreicht hatte. „Wenn er wieder nach Marina Grande hinunter will, dann wäre es einfacher gewesen, nach Capri hinauf zu laufen und die Funicolare zu nehmen, aber in seiner Situation sind wahrscheinlich selbst die zwei Euro für die Einzelfahrkarte schon zu viel“, mutmaßte Corsano. „Wo müssen Sie jetzt hin?“ „Wir haben für eine Nacht ein Hotelzimmer oben in Capri gebucht“, antwortete ihm Max. Corsano ließ den Griff des Kofferraumdeckels, den er bereits in der Hand gehabt hatte, wieder los. „Steigen Sie ein, ich fahre Sie schnell rauf.“ „Das ist aber nett von Ihnen, vielen Dank“, erwiderte diesmal Chiara. Der Appuntato rangierte den Fiat Panda von der Hauswand weg, Max ließ Chiara wieder vorne einsteigen und zwängte sich selbst erneut auf die Rückbank. Nachdem er Corsano den Namen des Hotels genannt hatte, fragte er ihn, wie viele Kollegen in der Stazione arbeiten würden. „In der Regel sind wir zu viert, Leiter der Einheit ist Maresciallo Torca, neben Vice Brigadiere Moiano und mir gehört auch noch Vice Brigadiere Roncato zu unserem Team.“ „Kennen Sie zufällig Maresciallo Francesco Bianchi in Ischia Porto?“, fragte Chiara neugierig. „Maresciallo Bianchi? Persönlich kenne ich ihn nicht, aber letzten Sommer habe ich einmal mit ihm telefoniert, als hier eine allein reisende deutsche Urlauberin einen Kreislaufkollaps erlitt und die Sanitäter nur einen Hotelschlüssel aus Ischia Porto bei ihr gefunden haben. Warum fragen Sie nach ihm?“ „Weil er mein Bruder ist.“ „Ach.“ „Wir waren jetzt eine Woche wieder einmal bei ihm und seiner Frau.“ „Dann sind Sie mit der Arbeit der Carabinieri bestimmt bestens vertraut.“ „Ja, ja“, seufzte Chiara übertrieben laut. „Nicht nur durch meinen Bruder, sondern auch weil mein Mann sogar im Urlaub immer wieder einmal mit den Carabinieri zusammenarbeitet. Er hat nämlich die Gabe, auch in Italien ständig in Kriminalfälle hineinzustolpern und seinen Urlaub dann mit dem Ermitteln zu verbringen, anstatt sich zu erholen.“ „Dann hoffe ich für Sie, dass sich das Thema Ermittlungen mit dem vereitelten Handtaschenraub für diesen Urlaub bereits erledigt hat“, lachte Corsano. „Ihr Wort in Gottes Ohr, Appuntato“, lachte Chiara laut mit. Max auf der Rückbank sagte zu all dem nichts, weil er den Erzählungen von seiner Frau gar nicht widersprechen konnte.

Schon nach wenigen Minuten war die Fahrt schon wieder zu Ende. Gleich nach der Ortsgrenze von Capri führte die Via Marina Grande auf einen großen Kreisverkehr, von dem auch die Via Provinciale Anacapri, die schmale Via Marina Piccola sowie die Via Roma abzweigten. Anacapri war der im Westen der Insel hoch über dem Meer gelegene Ort mit der berühmten Villa San Michele, Marina Piccola lag an der Südküste und war ein kleiner, exklusiver Badeort, vor dem zur Urlaubszeit unzählige Boote und Yachten auf dem Wasser schaukelten. Die Via Roma schließlich führte ins Zentrum von Capri, direkt zur berühmten Piazzetta, dem gesellschaftlichen Mittelpunkt der Insel. Corsano war in die Via Marina Piccola abgebogen, das Hotel von Max und Chiara lag nur etwa einhundert Meter hinter dem Kreisverkehr. Nachdem der junge Carabiniere das Gepäck der beiden aus dem Kofferraum geholt hatte, gab er zuerst Max die Hand und verabschiedete sich dann überschwänglich von Chiara. „Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Aufenthalt auf unserer Insel. Genießen Sie das herrliche Wetter.“ „Grazie mille. Und natürlich auch vielen Dank fürs Herauffahren.“ „Keine Ursache.“ Corsano stieg wieder ein, wendete den Fiat in der schmalen Hoteleinfahrt und brauste davon. „Dem hast du richtig gefallen, mein Schatz.“ „Meinst du?“ „Na hör mal, ich hab doch gesehen, wie der dich im Auto ständig von der Seite angeschaut hat.“ „Gut zu wissen, dass ich sogar noch Chancen bei den jungen Männern habe“, erwiderte Chiara schnippisch. Damit konnte sie Max aber nicht ärgern, im Gegenteil. Er legte seinen Arm um sie und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. „Du bist halt noch immer so knackig wie mit fünfundzwanzig.“ Beide lachten laut los, Chiara erwiderte den Kuss, dann gingen sie Arm in Arm in ihr Hotel hinein.